Und wir waren frei!

Erna de Vries beeindruckte sehr. Foto: Brinkmann

Niedersachsen

Spelle (rb). „Und wir waren frei!“: Nach den letzten Worten von Erna de Vries blieb es mucksmäuschenstill in der Speller St. Johannes-Kirche, in der sich fast 500 Menschen im Rahmen einer Fastenpredigtreihe versammelt hatten, um das Zeugnis einer der letzten noch Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau zu hören. 

94 Jahre ist Frau de Vries, geborene Korn, alt und unermüdlich unterwegs, um ihre Lebensgeschichte als Jüdin im Nationalsozialismus zu erzählen – vor allem jungen Menschen. Ein so langes Leben zu erzählen, dauert lange; und dabei hat Frau de Vries nur ihre Jugendgeschichte in gut einer Stunde zusammengefasst. In Kaiserslautern geboren und aufgewachsen, war sie das einzige Kind einer jüdischen Mutter und eines christlichen Vater. Eigentlich war ihre Kindheit nicht besonders von Frommheit geprägt. 

Die Familie Korn hatte als Speditionsunternehmen ein gutes Einkommen. Der Vater starb jedoch früh, die Mutter führte die Firma zunächst weiter, bis die Regierung ab 1933 nach und nach die Juden an den Rand drängte, bis niemand mehr bei ihnen kaufen durfte, aber auch die Juden selbst nicht mehr einkaufen durften. Die „Reichskristallnacht“ 1938 machte auch vor dem Haus der Familie Korn nicht Halt und es wurde alles zerstört, was man zum Leben brauchte: Glas, Mobiliar, Betten; den Rest gab der Wohnung eine Flutung. Am schlimmsten aber war die Häme der NSDAP-geprägten Nachbarin, die mit gehässigen Worten die Seele verletzte. Mutter und Tochter flohen zu Verwandten nach Köln. Die Mutter hielt es dort nicht; sie wollte nach Kaiserslautern zurück, die Tochter – Erna – blieb zunächst in Köln, um eine Ausbildung in der Krankenpflege zu machen, denn ihren Traum, Ärztin zu werden, musste sie längst wegen der Schulgesetze, die es Juden verboten, Abitur zu machen, begraben. Aber die Sehnsucht, bei der Mutter zu sein, wurde übermächtig und Erna de Vries begab sich wieder zurück nach Kaiserslautern. Dort fand sie in einer Fabrik Arbeit, aber 1942 und 1943 begonnen die Deportationen. Sie wollte sich nicht von ihrer Mutter trennen und so ging sie – freiwillig – mit ihr nach Auschwitz. Der zuständige Gestapo-Offizier sagte noch zynisch zu ihr: „Sie wären ein schlechtes Kind, wenn das nicht so wäre!“

In Auschwitz angekommen, erhielt auch sie die Nummer eintätowiert; alle Kleidung wurde gegen Lagerkleidung ausgetauscht. Ab sofort wurde der Mensch nicht mehr mit dem Namen, sondern mit seiner Nummer aufgerufen – beim Appell, bei einer Verlegung, bei der Selektion. Der Name zählte nicht mehr. Arbeit unter widrigsten Bedingungen zerstörten die Gesundheit und auch Erna de Vries erlebte die Verlegung in den Todesblock. Panik brach unter den Frauen aus. Erna de Vries lag schon am Boden, als sie betete: „Ich will leben – aber wie du willst!“ Und sie hatte einen letzten Wunsch: „Ich möchte noch einmal die Sonne sehen!“ Auf einmal hörte sie jemanden ihre Nummer rufen: Als „Mischling ersten Grades“ (Halbjüdin) sollte sie in Ravensbrück für die Rüstung arbeiten. So kam sie aus Auschwitz weg, wurde von ihrer Mutter getrennt. Als sie sich unter Tränen voneinander verabschieden, sagte ihre Mutter „Du wirst überleben und du wirst erzählen, was sie mit uns gemacht haben!“

Ihre Mutter musste in Auschwitz bleiben – und starb wenig später dort. Auf welche Weise, wird die Tochter nie erfahren. Auch Ravensbrück war die Hölle, aber es war kein Vernichtungslager, kein Todeslager ersten Ranges wie Auschwitz-Birkenau. In den letzten Kriegstagen machte sich der Todesmarsch auf den Weg – wohin? Niemand wusste es. Aber dann kamen amerikanische Truppen diesem Zug der zu Tode erschöpften Menschen entgegen – und sie durften wieder erleben, wie sich das Gefühl „Freiheit“ anfühlte.

Auf die Frage, wie ein Mensch so ein unvorstellbares Leid überhaupt aushalte, antwortete Erna de Vries: „Ich hatte immer Hilfe von oben! Mein Glaube hat mich getragen.“ Wohl jeder, der ihr Lebenszeugnis gehört hat, war an diesem Abend tief betroffen und berührt.

Im Anschluss an die Feier der Heiligen Messe kamen etliche Jugendliche zu Frau de Vries, zum Teil mit Tränen in den Augen, und dankten ihr für ihre Worte. Einige baten darum, ihre Tätowierung sehen zu dürfen. Ansonsten ging es ihnen wie allen: Sie blieben stumm ob des Gehörten. Erna de Vries betonte: „Bleibt menschlich. Seht den anderen, egal, wer er ist und woher er kommt. Helft! Steht einander zur Seite!“
Das war ein gutes Schlusswort zu einem beeindruckenden Abend.


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